Mit Schwung öffne ich die schweren, hölzernen Türen und eine beruhigende Wärme umhüllt mich. Vor mir erstreckt sich eine weitläufige Stadt, die im Schein tausender Lichter steht. Schritt für Schritt wage ich mich hinein in die wohlige Umarmung, die mir dieser so bekannte Ort gibt. Überall funkelt und glitzert es in goldenen Farben und jedes Haus erstrahlt in seiner Pracht. Sie sind einfach gebaut, mit Holzbalken und Steinen, doch die verschiedenen Lichter lassen sie wie verzaubert wirken. In den Bäumen hängen Laternen, an jedem freien Platz wächst eine Vielzahl an Pflanzen und obwohl sie so unterschiedlich sind, passen sie doch alle zusammen. Rechts und links erstrecken sich noch mehr Häuser die Höhlenwände hoch. Richtet man den Blick nach vorne, kann man der Hauptstraße folgen, die direkt in das Zentrum der Stadt führt. An der Decke rankt sich ein grüner Himmel, zwischendrin kann man sogar bunte Punkte erkennen. Durch den Raum tanzen Schwärme von Glühwürmchen und leuchtenden Schmetterlingen, die aussehen wie Feenstaub. Auf den Straßen lebt und tobt es. Es sind Gespräche und Kinderlachen zu hören und die Musik des Lebens schwebt in der Luft.

Diese Stadt liegt verborgen unter dem Gestein des Berges, von dem dieser besondere Ort seinen Namen trägt. Solvia – die goldene Stadt unter dem Berg – ist für die meisten nur eine Legende. Nur diejenigen, die an sie glauben, bekommen die Möglichkeit, sie zu betreten. Meine Eltern haben mit ihrem ganzen Herzen geglaubt und mir somit einen unvergesslichen Heimatort gegeben.

>>Mali? Bist du es wirklich?<< Eine mir bekannte Stimme ertönt. Langsam drehe ich mich um und sofort breitet sich pure Freude in mir aus. Vor mir steht eine Frau mit langen dunkelblonden Haaren, die in einem geflochtenen Zopf bis zu ihrem unteren Rücken reichen. So wie sie es am liebsten hat. In ihren braunen Augen spiegelt sich der Unglaube, den man auch in ihrem gesamten Gesicht lesen kann.

>>Lange nicht gesehen, Lou.<< Sofort zieht mich Leola in eine feste Umarmung. Ihre charakterliche Wärme besiegt auch den letzten Funken Kälte, die der Winter der Außenwelt in mir hinterlassen hat. Das Vertraute überschwemmt mein Herz und die Sorgen der letzten Stunden verblassen.

>>Ich kann nicht glauben, dass du wieder da bist.<<

>>Ich auch nicht.<< Meine Worte sind nicht mehr als ein leichtes Seufzen, mit dem ich mich nur noch mehr in ihre Arme sinken lasse. Tränen verschleiern meine Sicht, doch sie fallen nicht, denn ein unsichtbares Schild hält sie zurück.

Langsam lockern wir unsere Umarmung und als ich wieder ihre Augen sehen kann, glitzern sie verräterisch im goldenen Licht. Alleine diese ungewollte Geste bedeutet mir so viel. Es braucht keine Worte, damit ich verstehe, wie erleichtert sie ist, mich zu sehen, denn es beruht auf Gegenseitigkeit. Ein sanftes Drücken ihrer Hand bestätigt es mir. Für einen Moment schweigen wir und in mir fängt etwas an zu heilen.

>>Hast du meine Briefe bekommen?<<, frage ich.

>>Ja, habe ich. Es war so schön, von deinen Abenteuern zu lesen. Sie haben die Zeit ohne dich erträglicher gemacht.<< Unerwartet schlägt die Stimmung um. Ein wehmütiger Ausdruck schwebt über ihrem Gesicht. Sie versucht, es zu überspielen, doch ich erkenne es, so wie ich es schon immer erkannt habe. Nun bin ich an der Reihe, ihre Hand leicht zu drücken. >>Trotzdem wünschte ich, ich hätte dir auch einfach schreiben können. Es ist in dieser Zeit einfach so viel passiert, bei dem ich meine beste Freundin gebraucht hätte. Doch du warst nicht da. Das Schlimme an der ganzen Sache ist, dass ich dir noch nicht mal einen Vorwurf machen kann. Ich war ja diejenige, die dich losgeschickt hat.<<

Während sie redet, senkt sie immer weiter den Kopf. Ich beuge mich leicht nach vorne, damit sie gezwungen ist, mir in die Augen zu sehen. Bei meinem nächsten Satz betone ich bewusst jedes Wort. >>Und dafür bin ich dir so dankbar.<<

Ein kleines Lächeln stiehlt sich auf ihre Lippen. >>Ich wusste einfach, dass diese Stadt viel zu klein für dich ist. Du hast immer so in die Ferne geschaut – als ob du den Ruf der Welt durch den Berg hindurch hören könntest.<< Perplex steh ich da. Ich hatte ihr nie erzählt, dass mich die Welt wirklich gerufen hat. Schon seit ich klein gewesen war, hatte ich so ein Gefühl. Mir ist einfach bewusst gewesen, dass das hier nicht alles sein kann. Das Fernweh für einen Ort, den ich noch nicht gekannt habe, hat mich einfach nicht losgelassen. Da draußen ist noch so viel, das ich sehen muss. Also bin ich nach langem Hin und Her gegangen, habe mein Herz mit so vielen Erinnerungen gefüllt, nur um am Ende wieder zurückzukommen. Als Antwort schenke ich ihr ein kleines Lächeln zurück, das ihr meine Wertschätzung zu verstehen geben soll.

Plötzlich schreckt Lou auf und schaut sich um. >>Ich habe ganz vergessen, dass ich eigentlich auf dem Weg zu Fiona war. Sie wartet bestimmt schon am Hauptplatz auf mich.<<

Ohne es auszusprechen, laufen wir langsam los. Zusammen führt unser Weg die Hauptstraße entlang in Richtung Zentrum. Dort ist auch der Hauptplatz, auf dem immer die Stadtfeste stattfinden. Sie erzählte mir alles, was ich verpasst habe und in gewisser Weise verspüre ich Schuld. Mit dieser Reise habe ich so viele Momente vergeudet, die ich mit ihr hätte haben können. Mir war damals bewusst, dass ich vieles verpassen werde. Und trotz dessen, dass ich selber so viel erlebt habe, fühle ich mich schlecht dafür, einen Teil ihres Lebens verpasst zu haben.

Gerade als ich auf eine ihrer Geschichten reagieren will, werde ich unterbrochen. Ms. Rosewood, eine ältere Frau, die während meiner Abwesenheit sichtlich gealtert ist, begrüßt mich, als wäre ich nie weg gewesen. Lou erklärt mir, dass ihr Mann erst vor kurzem verstorben ist, sie aber trotzdem so wie früher jeden Tag auf der Bank sitzt und das Leben auf der Straße beobachtet. Auch andere Grüßen mich. Will, der Obst- und Gemüseverkäufer, bei dem ich damals immer einkaufen war. Sofia, der das kleine Cafe an der Ecke gehört, welches heute nicht mehr so klein scheint. All diese Leute heißen mich willkommen und lassen mein Herz aufblühen.

Langsam lichten sich die Häuserfassaden und ein offener Platz erstreckt sich vor uns. Auch hier sind überall helle Lichter zu erkennen, die aus verschiedenen Quellen leuchten. Heute wird der Platz für den wöchentlichen Markt genutzt, bei dem auch Musik gespielt wird. Schnell erledigt Lou ihre Angelegenheit mit Fiona, bevor wir unseren Weg fortführen.

Ohne es überhaupt zu merken, sind wir zu unserem alten Platz auf der Wiese im Park gewandert, an dem wir uns als Kind immer getroffen haben. Es ist ein stiller Ort, der direkt am langsamen Fluss liegt, der die Stadt in zwei Teile teilt. Auch hier lassen sich goldene Lichter finden, doch sie sind schwächer und bilden zusammen mit dem Geräusch von fließendem Wasser eine ruhige Atmosphäre. Kurzerhand entscheiden wir uns, uns wie früher ans Ufer zu setzen. Unser Gespräch ist in dieser Zeit nicht ein einziges Mal zum Erliegen gekommen und macht auch nicht den Anschein, als würde dies bald der Fall sein. Mit einem Gefühl von Erleichterung höre ich Lou weiterhin gespannt zu.

Diese Frau hat mich ermutigt, den Weg zu gehen, den ich gehen musste. Sie hat mich bei der Reise meines Lebens unterstützt, ohne zu wissen, welche Konsequenzen es für sie haben wird. Sie hatte den Mut, mich loszuschicken, obwohl sie wusste, dass es weh tun würde.

Die Zeit, die ich dank ihr in der Welt verbracht habe, hat mich verändert. Mir sind viele Erfahrungen geschenkt worden, die mir gezeigt haben, wer ich bin und was ich sein möchte. Dabei ist mir eine Sache bewusst geworden: Die Menschen, denen wir begegnen, helfen uns, unseren Charakter zu bilden. Sie sind Teil von einem selbst, egal ob gut oder böse.  Nach all der Zeit hatte ich Angst, dass Lou und ich uns auseinander gelebt hätten. Dass wir inzwischen so unterschiedliche Persönlichkeiten hätten, die nicht mehr harmonieren. Doch gerade diese Person hat mir das Gegenteil gezeigt. Ganz gleich wie weit weg ich gehe, wie lange wir uns nicht sehen oder wie sehr wir uns verändern, eines bleibt immer gleich – unsere Vergangenheit.

Ich habe es geliebt, durch die Welt zu reisen und so viele neue Sachen zu erleben. Nächte unter dem Sternenhimmel, die die Weite des Universums spiegeln. Ruinen und Städte, die Geschichten aus früheren Zeiten erzählen und Kristallhöhlen, die nicht gegen das Leuchten von Solvia ankommen. Verbindungen, die ich mit neuen Leuten eingegangen bin und die Liebe, die ich gefunden und verloren habe. Doch es spielt keine Rolle wie viele Leute ich getroffen habe und was ich dabei gefühlt habe, denn ein Gefühl ist stärker als alle anderen gewesen: >>Ich hab dich vermisst.<<

Lou nimmt meine Hand in ihre und strahlt mich an. Von jetzt auf gleich spüre ich, wie eine Last von meiner Brust fällt, als ich ihre Worte höre: »Willkommen zu Hause, Malia.«

 

Von Jelisa, 13. Klasse der IGS

Diese Kurzgeschichte hat beim Schreibwettbewerb des Autorinnen-Netzwerks „Mörderische Schwestern“ 2025 den ersten Platz belegt. Hier mehr Infos zur Preisverleihung im Bericht Ausgezeichnet! IGS-Schülerinnen gewinnen Schreibwettbewerb in Rhein-Neckar.